Schließen

Die Kraft der automobilen Prägung

 

von Michael Godde mit Fotos von Wolfgang Groeger-Meier

Für die einen sind Straßen nur lästige Wegstrecken, und Autos nur einfache Transportmittel. Für andere wie uns jedoch nicht. Genau deshalb fahren wir auch nicht mit dem Zug, sondern mit einem mintgrünen BMW 2002 aus dem Baujahr 1975.
Er ist der perfekt justierte Tonabnehmer – für Geschichten, die in den unzähligen Spurrillen der B3 verborgen liegen.

Was mein erster automobiler Höhepunkt war? Ein sehr intensiver nächtlicher Ritt in einem 02. Im Winter 1975. Natürlich mochte ich auch vorher schon Autos. Aber das gemütliche Umherschaukeln mit dem Mercedes /8 200 D meines Vaters hatte mich als kleiner Junge einfach nicht vom Hocker gerissen. Der winterliche Balanceakt in einem BMW 02 durch die tief verschneite Steiermark dafür umso mehr. Das Auto gehörte dem Metzger-Gesellen meines Onkels. Es war zwischen Weihnachten und Sylvester, und wir hatten Langeweile. Er fragte, ob wir rüber zum Bauernhof fahren sollen. Kurz gucken was die Pferde machen. Für mich klang das deutlich interessanter als den Weihnachtsbaum anzustarren. Vor der Tür stand sein 2002 ti, Baujahr 1970, schwarz, tief und wie damals im winterlichen Österreich üblich mit Spikes bestückt.

DSC07974

Der Vierzylinder, mit einer Nockenwelle und zwei Ventilen pro Brennraum, der in seiner Grundidee noch bis spät in den 80ern im E30 eingesetzt wurde, röchelte heiser durch seine beiden 40er-Solex Flachstrom-Doppelvergaser. Ich war gerade fünf Jahre alt, meine Sinne noch nicht von zeitraubenden Unterrichtsstunden getrübt, als der 02 seine Hinterräder in den Schnee presste und die erste Kehre auf uns zuflog.

Peter gab einen Impuls übers spindeldürre Lenkrad an die Vorderachse, tänzelte virtuos auf der Pedalerie und sortierte mit dem hoch aufragenden Schaltstock das Vierzylinder-Orchester aus schüchternem Drehmoment und gieriger Spitzenleistung so punktgenau wie ein Meisterdirigent sein Orchester. Und dann passierte es. Wir rauschten quer durch die Kehren, der vom Schnee bedeckten Straßen von St. Aegyd. Ich war geprägt, für immer. Genau das war es auf das ich im /8 meines Vaters wohl vergebens gewartet hatte. Die Pferde auf dem Hof waren mir plötzlich auch egal, dem Gesellen zum Glück auch. Ich wollte driften, ok erstmal mitdriften. Meine Eltern ahnten nicht, dass ihr Plan aus mir einen Bankkaufmann zu machen schon gescheitert war, bevor ich überhaupt Rechnen konnte. Ich wollte Rennfahrer werden, Autos am Limit bewegen. Der 02 hat die erste Weiche meines Lebens gestellt. Seit nunmehr 20 Jahren bin ich Testfahrer.

Bundesstrasse3_08452

Ob der Geselle und ich auf unserem abendlichen Ritt geredet haben? Nein, wozu. Er musste mir nichts erklären. Ich konnte fühlen wie sich der BMW hinten beim Beschleunigen in die Federn drückt, Traktion aufbaut, beim Einlenken seine Last auf das kurvenäußere Vorderrad stützt, das entlastete Rad ein Stückchen vom Asphalt trennt und sich gierig durch jeden Radius saugt – bereit jederzeit vom Gasfuß inspiriert mit spielerischer Leichtigkeit sein Heck nach außen zu drücken. Der 02 fand damals schon seine ganz eigene automobile Melodie, die man einfach nicht vergisst.

Bundesstrasse3_drive

Und auch über vierzig Jahre später klingt sie für mich genau so gut wie damals. Jetzt sitze ich hinter dem Steuer eines 2002 – allerdings einen ohne das ti-Kürzel am Heck. Das Auto gehört Wolfgang, dem Fotografen und Ideengeber dieses Buches. Mit ihm hat er bereits 20.000 Kilometer auf der B3 ohne irgendein Problem abgespult. Zwar hat er nur einen Vergaser und anständige 100 statt der zornigen 120 PS des ti aus der Steiermark. Aber das ändert nichts an seinem einzigartigen Fahrgefühl.

DSC07911

Keine höhenverstellbaren Sitze, kein umständlich einstellbares Lenkrad. Der 02 passt jedem, damals wie heute. Schwere Fahrer sacken tiefer ins Polster, leichte sitzen höher – so einfach kann das sein. Kein Firlefanz stört den Blick auf die Straße und die Konzentration aufs Wesentliche. Je schneller man mit dem nur 990 Kilogramm leichten 02 unterwegs ist, desto besser liegt er in der Hand Servolenkung? Braucht im 02 niemand. Bei jedem Anbremsen, Einlenken, und Beschleunigen ist diese Leichtigkeit von damals zurück. Wir stürzen uns in jeden Radius, fliegen über Kuppen und genießen auf den Geraden wie sich der Vierzylinder in jedem Gang wieder an den langen Übersetzungen abmüht. Was dem 2002 fehlt, ist die Doppelvergaseranlage, die den ti damals wild schnaufend aus dem Drehzahlkeller lockte und ihm oberhalb von 4000 Touren mit hartem Beat zur Spitzenleistung trieb. Was nicht ist, kann ja noch werden. Um den braven Zweiliter-Vierzylinder bei Laune zu halten muss ich meine Füße über die Pedalerie tanzen lassen, die Gänge rauf- und herunterschalten. Der Schaltstock flutscht durch seine Gassen, immer etwas knorpelig aber dennoch präzise. Vier Gänge reichen völlig. Ohnehin nutzen wir in den engen Kehren und kurzen Geraden nur den zweiten und dritten Gang. Ein paar PS könnte er schon mehr vertragen. Schließlich hat Wolfgang seinem grünen 02 einen Satz neuer Bilstein-Dämpfer spendiert, straffe Federn eingesetzt, Stabis montiert, die ihren Namen verdienen und die zierlichen Alpina-Felgen zudem mit zeitgemäßen Yokohama Reifen bestückt. Das gefällt dem 02 und mir ausgesprochen gut. Der Kleine liegt auf den kurvigen Sträßchen links und rechts der B3 um Bad Nauheim auch heute noch wie ein Brett.

Bundesstrasse3_08373

Wolfgang und ich sitzen oft zusammen in brandneuen Autos. Meistens dann, wenn Hersteller ihre Schätzchen zum ersten Mal in exklusiver Umgebung präsentieren. Die einen leisten 80, die anderen über 600 PS. Manche kosten 15.000 Euro, andere 150.000 Euro. Er fotografiert, ich teste. Und wir reden viel, wenn wir zusammen durch die Gegend fahren. Immer. Eigentlich die ganze Zeit. Ob wir auch im 02 miteinander reden? Wenig. Warum? Weil der 02 uns einfach prächtig unterhält. Wir stellen ihm keine Fragen, trotzdem gibt er immer die richtigen Antworten. Er inszeniert sich in jeder Kurve. Jede Gerade, bergauf oder bergab, jeder Zwischensprint hat im 02 seinen ganz eigenen Rhythmus. Einen 02 würde ich selbst mit verbundenen Augen vom Beifahrersitz aus erkennen. Das können nicht viele Autos von sich behaupten, vielleicht noch ein Porsche 911. Aber das ist eine andere Geschichte.