Auf der Bundesstraße 3 von Heidelberg nach Offenburg.
August 2018. Von Markus Schönfeld mit Fotos von Wolfgang Groeger-Meier.
Ich weiß nicht mehr genau, wo sich das Gefühl einstellte. Wo genau ich eine Grenze ziehen würde. Doch es muss weit hinter Heidelberg gewesen sein. Südlich von Bruchsal und Karlsruhe vielleicht.
Auf jeden Fall passierte es an dem Tag, als ich morgens im Walk ´ schen Haus in Weingarten aufwachte. In diesem verträumten Fachwerk-Hotel direkt am Walzbach, das seine Gäste mit einer gemütlichen Holzterrasse über dem Wasser empfängt. Mein „Fremdenzimmer“ lag direkt an der Straße. Das Fenster stand an diesem Morgen weit offen. Und offenbar hatte die B3 schon ausgeschlafen. Ich noch nicht. Es war ein unerträglich heißer Sommer.
Der Tag auf dem heißen Asphalt der „Bertha Benz Memorial Route“ hatte uns so ausgedörrt, wie die trockenen Getreidefelder in der Heimat. Und er war mehr als ereignisreich. Denn die Etappe stand ganz im Zeichen der ersten Autoreise der Welt. Schließlich machte sich Bertha Benz genau hier im Jahr 1888 auf den Weg zur einzig wahren Pionier-Fernfahrt der Automobilgeschichte. Ein Pferdeloser Wagen. Lautstark. Rauchend. Soetwas hatten die Leute bis dahin noch nicht gesehen. Es war Anfang August, als sie mit ihren beiden Söhnen Richard und Eugen auf dem Patent-Motorwagen von Mannheim nach Pforzheim aufbrach.
Wohl auf den Tag genau 130 Jahre später nahmen nun Wolfgang und ich die Spuren dieses historischen Streckenverlaufs auf – zwei Möchtegern-Zugvögel auf ihrem langen Weg nach Süden. Allerdings in einem Bayerischen Motorwagen. Ob an der alten Neckar- Brücke in Heidelberg oder in verschlafenen Winkeln wie Leimen oder Nußloch. Überall waren wir mit interessierten Menschen ins Gespräch gekommen, die uns am Ende „alles Gute“ für den Weiterzug nach Süden wünschten.
Süden – ein Wort wie eine Verheißung. Tropisch. Anziehend. Und irgendwie geheimnisvoll. Mehr als alle anderen Himmels-Richtungen scheint der Süden ein Versprechen abzugeben. Er vermittelt eine Sehnsucht, die man vielleicht nicht erklären kann. Doch sie ist da. So stark, dass selbst Scharen von Vögeln ihr Jahr für Jahr folgen. Vielleicht war uns dieses Fernweh noch gar nicht bewusst, als wir nachmittags die Stadt-Apotheke in Wiesloch erreicht hatten. Genau dort füllte die tollkühne Bertha damals zum ersten Mal ihren Kraftstoffvorrat wieder auf, um weiter gen Süden fahren zu können. Der spontane Verkauf von drei Litern Reinigungsbenzin „Ligroin“ krönte die geschichtsträchtige Apotheke damit also zur ersten Tankstelle der Welt.
Doch die liegt heute mitten in einer Fußgängerzone, denn die Verbindungsstraße zwischen Heidelberg und Karlsruhe wurde längst begradigt und an den kleinen Orten vorbeigeführt.
Über Besuch freute sich Apotheker Adolf Suchy trotzdem. Und wohl kaum jemand im Ort war besser über die Geschichte informiert als er. „Es waren schon viele Oldtimerfahrer hier und wollten die alte Apotheke sehen.“ Tatsächlich ist das Museumszimmer noch zeitgemäß erhalten, mit großen Holzschränken, winzig kleinen Fächern und alten Glasgefäßen darin.
Das Frühstück im Walk´ schen Haus holte einige unserer Lebensgeister zurück – wie es einst das Ligroin in Bertha´ s Motorwagen tat. Doch erst der zweite Boxenstopp ein paar Meter bachabwärts zündete bei uns den ersehnten Impuls. Das winzig kleine Bistro „La Casetta del Caffé“ – das ein paar Tische an der Gasse direkt am Bach stehen hat – servierte nämlich nicht nur handgefertigte Pralinen, sondern auch zwei vollmundige Affogati. Das ist wohl italienisch und wird mit „Ertrunkene“ übersetzt. Wie passend. Auch wir fühlten uns an diesem Morgen wie Vanilleeis in heißem Espresso. Doch die südländische Köstlichkeit lieferte tatsächlich den nötigen Auftrieb für den Weiterflug.
Jetzt – genau hier, an diesem schattigen Plätzchen, mit dem rauschenden Bach und dem italienischen Café hätte es einem schon auffallen können. Hier hatte sich das Gefühl angekündigt, wie es kleine Wolken oder ein leichter Luftzug vor einem Gewitter tun. Doch wir bemerkten es noch nicht. Wir hefteten uns lieber wieder an die Fersen unserer Mission, schnüffelten weiter nach stummen Wegweisern der Vergangenheit, fragten Leute und suchten versteckte Erkennungszeichen der alten B3. Die wurden im Laufe des Tages deutlicher. Autowerkstätten, weiß gekachelte Tankstellen oder einfach nur eingewachsene kurvige Asphaltstücke neben der Hauptstraße, die von unauffälligen Kreuzen oder dem heiligen Antonius bewacht werden. Hier und da entdeckten wir auch Verkehrsschilder, auf denen die „3“ einfach überklebt wurde. Es schien, als wollte man die verschlungene Geschichte und die Bedeutung dieser einstigen Lebensader einfach vertuschen, und sie zu einer geraden Schnellstraße ohne Gesicht degradieren. Wir ließen uns davon nicht täuschen.
Auch um Ettlingen bei Karlsruhe macht die B3 heute einen großspurigen Bogen. Der malerischen Stadt an der plätschernden Alb tut das sicher gut. Und so lohnte sich mal wieder ein Abstecher auf dem alten Streckenverlauf direkt zum zentral gelegenen Schloss.
„Soll ich Euch die Zylinderkopfdichtung tauschen oder warum steht ihr hier rum?“, fragte der gewitzte Radfahrer mit den sonnengebräunten Waden. „Die müsste tatsächlich mal raus“, entgegnete Wolfgang schlagfertig.
Und schon waren wir mit Uwe im Gespräch. Er reparierte früher jede Menge 02er. Einen Blick unter die Haube unseres treuen Gefährten ließ er sich daher nicht nehmen. „Da habt ihr Euch ja eine tolle Strecke nach Süden ausgesucht“, resümierte er zum Abschluss und radelte weiter. Da war er wieder. Dieser rätselhafte Süden. Als wäre er keine Himmelsrichtung, sondern ein klar abgegrenzter Ort. So wie Ettlingen, Weingarten oder das Elysium.
Fortsetzung folgt…
Auf der Bundesstraße 3 von Kassel nach Frankfurt.
September 2017. Von Markus Schönfeld mit Fotos von Wolfgang Groeger-Meier.
Achtung! Es könnte jetzt ein bisschen melancholisch werden. Doch Wolfgang ist selbst Schuld. Stellt einem diesen wunderschönen Oldtimer vor die Nase, mitten in Kassel. Ist doch klar, dass man sofort in der Zeit zurückkatapultiert wird. Das dicke mintgrün lackierte Blech, Chrom an Fenstern und Stoßstangen. Und dann diese alte, zusammengefaltete Landkarte auf der Hutablage. Umgehend beginnen sich die Kindheitserinnerungen zu überschlagen. Welch Wucht doch manche Details haben.
„Hier, der Schlüssel,“ ruft Wolfgang. Der Freudenpuls geht augenblicklich nach oben. „Ehrlich?“ Doch da hab ich das lange, flache und blank polierte Metallstück schon in der Hand. Wieder so ein Stück Vergangenheit. Filigran und trotzdem solide – wie für die Ewigkeit gemacht. Warum sind moderne Autoschlüssel nur so seelenlose Plastikhüllen? Von den Autos ganz zu schweigen. Das hier war noch Qualität. Echtes Metall.
Wow – wir sind noch keinen Meter gefahren, da läuft die Gedankenmaschinerie schon auf voller Kraft. Was bringt uns dieser ganze Fortschritt eigentlich? War früher nicht alles besser? Toll Wolfgang, dass Du mir den Lauf der Zeit und seine melancholische Eindringlichkeit so unter die Nase reibst. Wir haben Kassel noch nicht einmal verlassen, und ich fühle mich schon wie ein alter Mann.
Erst einige Zeit später – wir haben die etwas verzwickte Streckenführung aus dem Ballungsraum der „documenta“-Hauptstadt nach Süden gemeistert – sehe ich ein, dass diese Gefühlsduselei wohl dazugehören muss, wenn man als Neuzeit-Projektil mit vollem Großstadttempo auf eine ländliche Roadtrip-Bummelei im 70er-Jahre-Stil abgefeuert wird. Sorry Wolfgang für vorhin – aber was für eine Metamorphose!
Doch jetzt bin ich da, halte den dünnen Lenkradkranz aus Bakelit in den Händen, lausche dem kernigen Motorklang des Zweiliters und lasse mir die frische, spätsommerliche Landluft über das Dreiecksfenster direkt in die Nase wehen. Mehr braucht es gerade nicht. Das Grinsen auf Wolfgangs Gesicht verrät mir, dass wir uns einig sind. Es gibt keine Termine, keinen eng getakteten Zeitplan für die nächsten Tage – nur uns und die Bundesstraße B3 nach Süden.
Die sanften Kurven und leichten Steigungen der Kasseler Berge, durch kleine Ortschaften hindurch, immer in Richtung Marburg. Auch wenn die B3 längst offiziell für etwa 40 Kilometer über die hektische Autobahn A49 geführt wird, wollen wir lieber ihren alten Streckenverlauf genießen. Geleitet werden wir auch ohne Navi von stummen Zeugen der Vergangenheit. Verlassene Gasthöfe, verfallene Tankstellen, alte Wegsteine – schnell entwickelt man einen Blick für die tristen Wegweiser der antiquierten Hauptverkehrsachse. Jahrzehntelang lagen diese Ortschaften direkt an der Bundesstraße. Sie profitierten vom Verkehr und den vielen Fremden. Doch litten sie gleichzeitig unter ihm. Heute hasten Reisende längst über das zweispurige Betonband, das sich einige Kilometer entfernt an Baunatal, Gudensberg oder Fritzlar vorbei durch die Landschaft schneidet. Die malerische Landstraße lassen alle links liegen. Lieber in vier Stunden von Frankfurt nach Berlin als nur bis Kassel. Zufällig kommt hier auf dem Land jedenfalls keiner mehr vorbei. Nur wir in unserem grünen 1975er BMW 2002.
Doch es gibt noch andere Genießer, die sich in dieser Gegend angesiedelt – oder sie nie verlassen haben. Einige Pendler haben die Idylle nämlich längst für sich entdeckt. Sie ziehen die ländliche Ruhe dem Stadtleben vor – auch wenn es hier nur eine löchrige Infrastruktur gibt.
„Keine Kita, keine Schule, kein Café,“ sagt Jens Friedrich aus Bad Zwesten. Auch er fährt einen 1975er 2002. Einen orangefarbenen. „Inka heißt die Farbe für BMW-Fans“, schwärmt der Familienvater.
Er begleitet uns ein Stück mit seinem Schätzchen. Ehrensache. Sein 2002 Tii mit Kugelfischer-Einspritzung hat dabei hörbar mehr Leistung als unser 02 mit Einfach-Vergaser. Im Formationsflug jagen wir über das leere Asphaltband hinter ihm her und beobachten das Heck mit dem mittigen Auspuff beim Tanz, lauschen der klangvollen Symphonie aus dem Doppelrohr, staunen wie das Fahrwerk arbeitet. Dezent mischen sich Abgase in den Duft der Landluft. Auf einen Schlag sind wir wieder jung, drehen die niedrigen Gänge aus, freuen uns wie die Schneekönige über hohe Drehzahlen, knackige Schaltvorgänge und einen guten Schnitt durch die S-Kurven. Wie lang ist das her? Und wann ist ein solcher Spaß beim Fahren eigentlich verloren gegangen?
Das Philosophieren über Freude und Fahren in der guten alten Zeit startet gleich nach dem Ritt, als wir an einer Backsteinmauer auf Jochen warten. Noch so einer von unserer Sorte. Der soll die 70er-Jahre-Tricolore mit seinem golf-gelben 1502 komplett machen. Und da kommt er auch schon angedonnert. Tief und laut rollt er durch die Backsteinarchitektur der ehemaligen Besteckfabrik Schwalmstadt. Das Ansauggurgeln der beiden Weber-Vergaser ist deutlich zu vernehmen. Natürlich lässt er den Motor zweimal kurz aufheulen, bevor er ihn abstellt.
Foto: Markus Schönfeld
Die Rücklichter sind klein und rund. Es ist ein 1972er Modell. „Na Jungs,“ steigt Jochen grinsend aus seiner gelben Granate.
Obwohl wir uns nicht kennen, wirkt es so, als würden wir uns hier jeden Montagabend treffen. Die Freude über diese schicksalhafte Versammlung schweißt in diesem Moment zusammen. Klar sind die Autos Thema: „Hast Du den Einzelvergaser gelassen?“ „Meine Ladelampe brennt.“ „Meiner läuft im Standgas ein bisschen unrund.“ Und schnell ist man auch wieder beim Lauf der Zeit und warum dieses Gefühl von Freiheit eigentlich so selten geworden ist? Sicher – früher war auch nicht jede Autofahrt ein solches Vergnügen. Doch erlebte man gewisse Dinge ohne digitalen Schnickschnack, ohne Kunststoff-Schischi und ohne ständige Online-Ablenkung nicht viel intensiver?
Wir machen uns auf den Weg. Auch Jochen will noch ein Stück mitfahren und das bunte Dreigestirn im Abendlicht genießen. Ganz ohne Handy, ohne Eile und ohne Ablenkung. Was für ein Anblick. Verkehr gibt es jetzt kaum noch. Die B3 gehört uns – für die ungefilterte Freude am Fahren. Sie ist nämlich noch da. Genau wie die vielen verlassenen Landstraßen. Man muss sie einfach nur mal wieder fahren.